Mittwoch, 5. Dezember 2007

von der theorie der überforderung

Nehmen wir einmal an, die heutigen Menschen wären von ihrem Leben überfordert. Ihnen wäre einfach alles zu viel, der fordernde Beruf, der ihnen alles abverlangt, ihren Fleiß, ihre Kreativität, ihre Kommunikationsfähigkeit. Dann der fordernde Ehepartner, der Ansprüche stellt. Und natürlich der fordernde Nachwuchs, der nicht nur die neuesten Computerspiele beansprucht, sondern auch Zuwendung und Zeit. Halten wir uns gar nicht auf mit Vergleichen zu früheren Zeiten, mit Fabriksarbeit oder Bauernleben, mit Wochenstunden und Arbeitsbedingungen. Denn es könnte ja sein, dass Menschen früherer Generationen andere Ressourcen hatten, und das sie darum Schwieriges anders aufgefaßt haben. Eine Theorie der Überforderung müßte daher nach den Sinnkonzepten fragen, mit denen Menschen ihre Situationen verstanden und bewältigt haben.

Erste Station würde die Theorie bei der Frage der Selbstbestimmung machen, welche die Aufklärung gestellt hat. Die freie Selbstbestimmung der Vernunft ist ja seit Kant die Basis des modernen Subjekt-Konzeptes. Der Mensch entscheide nach Vernunftgründen, nach welchen Richtlinien er sein Leben gestalten wolle, seine Berufsplanung, sein Familienleben, seine Weltanschauung und seinen Glauben. Das setzt ein hohes Maß an Einsicht und Reflexionsvermögen voraus. Umso mehr, als es dieses Menschenbild ja nicht mehr erlaubt, einfach so weiter zu machen: Denn damit ist ja die Tradition diskreditiert. Nur weil die Alten so dachten, ist kein Argument für mich. Und leider, die Umfragen zeigen es sehr deutlich: sie haben keine Argumente! In die Kirche gehen, nur wegen des Glaubens? Leben nach dem Tod? Sündenvergebung? Mission? Der Glaube ist ja eben kein Argument. Ist die Aufklärung an dieser Generation gescheitert?

Aber an unserer Generation: Wir glauben nur, was beweisbar oder argumentierbar ist. Sagen wir.

Irgendeine Station, möglichst eben nicht die erste, würde natürlich auch die Reformation untersuchen. Als Geisteshaltung, die einen Gottesglauben fundieren will außerhalb der rissig gewordenen Tradition, und besonders außerhalb des Dogmas und der Kirchenautorität. Aber diese Bestimmung würde selbstverständlich nicht auf eigene Bestimmung, sondern auf Gnade zurückgehen. Das Fundament dieser Haltung ermöglicht ein neues Schriftverständnis, auch eine neue Schriftauswahl, und besonders eine neue Kirchenverfassung. Es läßt sich das nicht ableiten aus den politischen Bedingungen der Renaissancezeit, sondern enthält ein bleibendes Element neuzeitlichen Menschseins, das in heutigen sehr säkular gewordenen Kirchen wiedergefunden werden kann.

Eine andere Station müßte bei der keimenden Wissenschaftsgläubigkeit gemacht werden, meinetwegen beim beginnenden Empirismus und Rationalismus, aber jedenfalls beim Evolutionsbegriff, der, von der Biologie der Arten ausgehend, heute das ganze Gebäude wissenschaftlichen Denkens und Meinens trägt. Der Gedanke also, etwas wäre verstanden, wenn seine Ursachenkette bekannt wäre, bis zu einem Weltbild immerwährenden Werdens und Vergehens. Dabei können ruhig auch die Grenzen oder Verfeinerungen dieser Erklärungsmodelle durch die Quantenmechanik und Chaostheorie zur Darstellung kommen, die das Bild wissenschaftlicher Rationalität insgesamt aber nicht zur Disposition stellen werden.

Der Hauptteil der Theorie aber sollte sich mit den heutigen Lebensäußerungen beschäftigen. Dabei würden vermutlich die vielen Wahlmöglichkeiten des Individuums in der modernen Demokratie im Zentrum stehen. Denn wenn nicht nur Regierungen und Parteien zur Wahl stehen, nicht nur Berufe und Partner, Kinderwunsch und Lebenskonzepte, Weltanschauungen und Religionen – manches davon erst seit wenigen Jahrzehnten und folglich noch ohne großen Erfahrungswerte -, sondern auch solche Fragen wie nach der Kontaminierung und Herkunft der Lebensmittel oder den Produktionsbedingungen und Transportwegen unserer Elektrogeräte und Bekleidungen: dann steigen die meisten aus. Die Wahlmöglichkeit ist zur Belastung geworden. Die leicht abrufbare Information verpflichtet ja, und die unerträgliche Dauerverpflichtung (ist das schon einmal mit der Leibeigenschaft verglichen worden?) erzieht zur Ignoranz, welche ich als beständigste Haltung erwachsener Individuen erkenne. Haben Sie bedacht, welche Auswirkungen die Information des Arztes an die werdende Mutter hat, dass ihr Kind möglicherweise mißgebildet zur Welt käme, wenn sie das wolle – und nicht dieses Wachstum des neuen Menschenlebens rechtzeitig beende? Dass die Mutter nunmehr die Existenz des behinderten Kindes rechtfertigen muß? Oder die Angehörigen des alten, kranken Menschen dessen Pflege zu Hause oder in der Anstalt? Oder, gestatten Sie diese Argumentation, der Arbeitslose seine erwerbsuntätige Existenz, wie auch die Hausfrau?

Besonders würde ich von einer Theorie der Überforderung Aufschluß erwarten über die Funktionalisierung des Menschen, deren Effizienzkriterien er sich willenlos (oder jedenfalls widerstandslos) zu unterwerfen scheint. Wie kann ein modernes Subjekt sich so bereitwillig den Zwängen der Fabrikation des öffentlichen und privaten Lebens unterwerfen, deren Werbemechanismen und Konsumzwänge so offensichtlich alle Lebensbereiche beherrschen und diese Herrschaft völlig ungeniert und unwidersprochen zu Markte tragen? Warum läßt sich der aufgeklärte Bürger so bereitwillig reduzieren, warum unterstützt er noch seine eigenen Parasiten, die aus ihm jede Eigenständigkeit saugen, um damit ein System zu nähren, den Markt und seinen Wettbewerb, auf dem er recht und schlecht überleben kann, dauernd vom Absturz bedroht? Mit Beifall belohnt wird, wer wieder Pfründe einer Gruppe bloßstellt, um sie gleichzumachen, obwohl wir lieber Überlegenheit durch Leistung und Rücksichtslosigkeit anerkennen als durch Geist – vorläufig wenigstens. Wenn, zumindest in Mitteleuropa, unaufhörlich der Gräueltaten der Nazizeit gemahnt wird, die die anderen begangen haben, so ist eigentlich der moralische Fortschritt im Menschenbild nur schwer zu erkennen, oder im Vergleich zum Imperialismus und zur Kolonialpolitik: nur die Mittel scheinen verändert, kaum die Sprache.

Es dürfte vielleicht nicht so schwer sein, eine solche Theorie überzeugend darzustellen, und ist bestimmt bereits geschehen. Aber die Mittel der Gegensteuerung scheinen doch recht bescheiden, Schule und Politik, gesellschaftsbildende Elemente, noch gerade mit der Effizientmachung des Menschen beschäftigt: und die Kirche? Man möge nicht von der Dringlichkeit der Aufgabe auf den Ernst der Arbeit schließen, auf Einhelligkeit in der Absicht und Einsatz aller Kräfte. Das wäre nämlich ein Effizienzargument.

Aufgrund des Glaubens gehorchte Abraham dem Ruf, wegzuziehen in ein Land, das er zum Erbe erhalten sollte; und er zog weg, ohne zu wissen, wohin er kommen würde.

Hebr 11,8

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